HAGIOGRAPHIE BIOROBOTICA
Andreas Mühe
Die Ausstellung erfolgt in drei Akten, die dem Kirchenjahr angelehnt sind:
1. Akt: 9.10. – 19.11.2020 »Biorobots«
2. Akt: 26.11.2020 – 03.01.2021 »Weihnachtsbäume«
3. Akt: 06.01.– 14.02.2021 »Die Auskehrung«
»Nun gut, ich habe genug von den Leuten, die für eine Idee sterben. Ich glaube nicht an das Heldentum. Ich weiß, dass es leicht ist, und ich habe erfahren, dass es mörderisch ist.« – Albert Camus, »Die Pest«
Gegen das Heldenepos der Antike, der Legenden genauso wie der Comics mit dem todesmutigen Einzelkämpfer steht die Masse, die unbenannte Menge an Menschen, die im Lauf der Geschichte immer wieder der »größeren Sache« zum Opfer fallen.
Der Reaktorunfall von Tschernobyl ereignet sich 1986, kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion. Als der Super-GAU passiert, befiehlt die sowjetische Staatsobrigkeit tausende Männer und Frauen zum Reaktor und nennt sie emotionsfrei »Liquidatoren«, zu Deutsch »Abwickler«. Eine andere, internationale Bezeichnung lautet »Biorobots«. Denn Maschinen, die zuerst eingesetzt werden, überstehen Hitze und Strahlung nicht.
Im Werkzyklus »Biorobots« geht der Berliner Künstler Andreas Mühe dem fragwürdigen Narrativ des Heldentums nach und greift dabei im Kontext des Kirchenraums eine zentrale Frage der Religionsgeschichte auf, die Frage nach dem Opfer. Zur Heiligen- und Märtyrergeschichte der Religionen gehört die Hingabe des eigenen Lebens für eine größere Sache. Im Christentum opfert Gott selbst das Leben seines Sohnes für die Schuld der gesamten Menschheit. Doch nicht nur im Christentum wird gefragt: Können uns diese Geschichten heute noch orientieren oder müssen wir heute neu und anders über Helden und Heilige nachdenken?
In der ersten Installation liegen Mühes »Biorobots« in Leuchtkästen auf – wie Grabmäler in mittelalterlichen Kirchen – zu ihrem Gedenken. In der Kirchenapsis, der zentralen Mitte, hängt an der Stelle des Altarbildes eine Arbeit, die ein leeres, nur mehr vom schweren, samtenen Stoff bedecktes Podest zeigt. Der Biorobot, der auf einem anderen Bild eben noch darauf zu liegen kam, ist verschwunden. Ob er selbst gegangen ist oder weggeschafft, bleibt offen.
Die Werkgruppe der »Biorobots« von Andreas Mühe, die im 1. Akt in den Leuchtkästen gezeigt wurden, wandern als Bildtafeln an die Wände des Kirchenraums. Die Adventszeit einläutend, liegen im 2. Akt nun die »Weihnachtsbäume« von Andreas Mühe auf den Leuchtkästen auf.
Nun ist eine Serie dieses Künstlers in Berlin zu sehen, die so recht zu dieser Jahreszeit zu passen scheint, in Wirklichkeit aber in subtiler Weise als ein 38-teiliges Selbstportrait von Andreas Mühe gelesen werden kann. Er ist 38 Jahre alt, hat 38 Mal Weihnachten erlebt und für jedes Weihnachten der Vergangenheit den jeweiligen Christbaum »rekonstruiert«. Vorbilder sind Fotos, die an den jeweiligen Weihnachtsfesten »geknipst« wurden, andere Bäume verdanken sich der Erinnerung an die Gestaltung dieser Bäume über Jahrzehnte hinweg. Man sieht, welcher »Christbaumschmuck« in der DDR zu finden war, welche Spielzeuge damals unter einem Christbaum lagen. Einem der Christbäume fehlt jeder Schmuck, nur ein paar traurigen Kerzen sind auf seinen Zweigen: Das ist das Jahr als der Schauspieler Ulrich Mühe, der Vater von Andreas, starb und niemand einen Baum schmücken wollte. […] Trotz der seriellen Konzeption hat jeder Baum seine eigene Individualität. Wir erfahren den historischen Hintergrund der einzelnen Arbeiten nicht, lesen also die von uns dafür erfundene Geschichte in diesen Arbeiten, suchen historische Bezüge. – Peter Raue, 2017
Der dritte Akt der dreiteiligen Ausstellung »HAGIOGRAPHIE BIOROBOTICA« mit dem Titel »Auskehrung« blickt mit resümierendem, nüchternem Blick auf die vorangegangen zwei Ausstellungsteile zu den »Biorobotern«, den Ersthelfern von Tschernobyl.
Ein neues Jahr bricht an, die Motive des vergangenen Jahres beginnen schon zu verblassen. Die Leuchtkästen, ursprünglich auf dem Boden der Kirche, sind gänzlich aus der Installation verschwunden und an den Wänden sind Fotografien zu sehen, die eine Figur, ähnlich einer antiken Skulptur, aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen. Die Figur wird mit der Kamera förmlich abgetastet nach Spuren ihrer Geschichte, Hinweisen auf Erlebtes. Zu sehen ist allerdings lediglich der Abguss eines zierlichen Körpers ohne Kopf und folglich ohne Gesicht und Identität. Am Ende der Ausstellungsreihe bleibt nur noch die Form übrig. Wie einzelne Teile einer Erzählung, die noch das Gewesene aufrufen, aber nicht mehr zur Gänze fassbar machen.
Vielleicht ist so auch die Erinnerung an die »Bioroboter« zu begreifen: Die Details gehen immer mehr in Vergessenheit, doch ihr Schicksal bleibt als Motiv über das konkrete Ereignis hinaus erhalten und als Aufruf zum An/Denken relevant. Die Geschichte der Bioroboter wird in der künstlerischen Bearbeitung von Andreas Mühe zur zeitlosen Metapher. – Dr. Kristina Schrei
In Andreas Mühes drittem Ausstellungskapitel »Auskehrung« zeigt sich so etwas wie die Quintessenz seines Ausstellungsprojektes »HAGIOGRAPHIE BIOROBOTICA«: das nackte Leben. Hatte die Ausstellung mit in Leuchtkästen wie auf Hochgräbern liegenden »Biorobotern«, den in Schutzkleidung gehüllten Rettergestalten von Tschernobyl, die ihr Leben bei den ersten Aufräumarbeiten im Unglücksreaktor anstelle von Robotern aufs Spiel setzten, begonnen, zeigt das Kapitel »Auskehrung« – nach einer Bildkollision mit Andreas Mühes »Weihnachtsbaum«-Serie zur Advents- und Weihnachtszeit im Rahmen des zweiten Ausstellungskapitels – die eigentlichen Figuren: nackte Körper, Torsi aus der Werkserie »Mischpoche«, die sich mit Andreas Mühes Familie beschäftigt. Im Gegenüber zu den »Biorobotern« knüpfen sie an den Anfang der Ausstellung an. Denn schon die anonymen Märtyrergestalten der Bioroboter in ihren Schutzanzügen waren im Grunde nackt, da auch ihre Schutzanzüge kaum etwas gegen die nukleare Strahlung ausrichten konnten. Verblüffend: Trotz allem bewahren die versehrten Körper ihre Integrität. Vielleicht besteht darin so etwas wie die »Hagiographie des menschlichen Körpers«: In der bleibenden Integrität und Würde des versehrten menschlichen Körpers, möglicherweise eine Metapher für unser Leben. – Pfarrer Hannes Langbein